Zu Händen von Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission:
Reflexion über das internationale Projekt „Gemeinsame Spuren“
Wir sind Schüler des Maria-Theresia-Gymnasiums aus München, das im Stadtteil Au-Haidhausen sehr nahe am Zentrum liegt. In unserem Projektseminar beschäftigen wir uns mit der Geschichte Münchens und befragen dazu Zeitzeugen. Wir haben uns bisher mit der Kriegs- und Nachkriegszeit beschäftigt und dazu passte das gemeinsame EU-Projekt sehr gut.
Viele von uns haben ihre Großeltern oder Nachbarn, die zu dieser Zeit Kinder waren, über ihr Leben und persönliche Eindrücke, während des Krieges interviewt. Sie haben insbesondere über Luftangriffe, Hungersnöte und ihre Wahrnehmungen und Gefühle berichtet. Außerdem haben wir uns die Folgen der Zerstörung Münchens anhand von alten Fotos angeschaut und mit der wiederaufgebauten Stadt verglichen.
Das Treffen mit Zeitzeugen war eine emotionale und persönliche Begegnung. Ihre Erzählungen machen die Geschichte greifbarer und lassen uns die schrecklichen Folgen des Krieges besser mitfühlen. Der Dialog mit so vielen unterschiedlichen Menschen hat verdeutlicht, dass Krieg für jeden riesengroßes Leid bedeutet. Wir haben gemerkt, dass die Interviewpartner ein großes Bedürfnis hatte, uns von ihren Erlebnissen und Erfahrungen zu erzählen. Der Kontakt mit der so weit entfernten Generation hat das Projekt zu etwas Besonderem gemacht, da dieser im Alltag fehlt.
Wir haben uns, zusätzlich zu unseren anderen Aktivitäten, auch kreativ betätigt. So haben wir am Anfang des Schuljahres einschneidende Erinnerungen aus dem Leben von unseren älteren Verwandten und anderen Zeitzeugen in Zeichnungen festgehalten. Prägende Momente im Leben dieser Menschen, so etwa die Kulturrevolution von Mao Zedong, die mit dem zweiten Weltkrieg zusammenhängt, oder die Kinderzüge des Schweizerischen Roten Kreuzes, konnten wir so künstlerisch umsetzen und auf unsere Art neu interpretieren. Auch hat eine andere Gruppe unseres Projektes aktuelle Fotos, mit Fotos unmittelbar nach dem Krieg verglichen und die Unterschiede erarbeitet.
Bei den Luftangriffen auf München im zweiten Weltkrieg von 1940 bis 1945 durch die britische und us-amerikanische Luftwaffe wurde die bayerische Hauptstadt schwer zerstört, das Zentrum sogar zu 90%. Über 6.000 Menschen kamen ums Leben, über 15.000 wurden verletzt. München erlitt das gleiche Schicksal wie die meisten deutschen Großstädte, durch die Lage im Süden waren die Angriffe allerdings nicht so zahlreich, aber ähnlich heftig.
Ein Tourist, der heute nach München kommt, kann sich das Ausmaß der Zerstörung nicht vorstellen. Denn die Stadt hat sich vielfach noch ihren mittelalterlichen Charakter bewahrt. Obwohl es sogar schon Pläne für einen völligen Neuaufbau an anderer Stelle gab, entschieden sich die Münchner für den Wiederaufbau, häufig sogar originalgetreu. Die Besitzverhältnisse zwangen auch dazu, die Straßenzüge genau so zu belassen. Manche Bauten, wie etwa die Glyptothek, die Skulpturensammlung des ehemaligen bayerischen Königs, bedurften aber einer sensiblen Neugestaltung, die dem Zeitgeist entsprach. Ein starkes Symbol für den Neuanfang und ein weltoffenes und friedvolles Deutschland wurde das Olympiagelände 1972, das auf den Schuttbergen des Zweiten Weltkrieges im Norden der Stadt errichtet wurde.
Dieses Anpacken und den Blick nach vorne richten ist typisch für die Nachkriegsgeneration. Viele Gefühle der Trauer und des Schmerzes blieben aber unterdrückt, da gleichzeitig eine große Scham über die Verbrechen bestand, die der Nationalsozialismus in deutschen Namen über Europa und darüber hinaus gebracht hatte. Die sogenannten „Kriegskinder“, die also den Krieg als Kinder erlebten, konnten ihre traumatischen Erlebnisse von Bombennächten, Flucht, Tod und Zerstörung nie verarbeiten. Mit ihren Ängsten wuchsen auch ihre Kinder, die „Kriegsenkel“ auf und so bestimmt der Krieg noch immer tief im Inneren die Menschen in Deutschland.
Diese tief vergrabenen Erinnerungen kommen jetzt bei den über 80-jährigen im Angesicht des Krieges in der Ukraine wieder zum Vorschein. Für viele dieser Generation sind die Bilder, die uns erreichen schier unerträglich. Ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit den Menschen in der Ukraine ist besonders hoch, was sich auch in einer enormen Spendenbereitschaft zeigt.
Auf einmal verbinden sich in unserem Projekt Vergangenheit und Gegenwart. Jeder von uns hat über seine Gespräche erfahren, wie schrecklich der Krieg ist. Unser Mitgefühl ist sehr groß. Wir dürfen nicht in Wut und Hass verfallen. Denn der Frieden beginnt in uns selbst. Wenn wir es nicht schaffen zu verzeihen, Ängste zu überwinden und immer wieder die Hand denen zu reichen, die Fehler begangen haben, und denen, die in größter Not sind, dann wird es keinen Frieden geben.
Die Schüler des Projektseminars „Münchner Zeitzeugen“ des Maria-Theresia-Gymnasium, München am 8. März 2022